Ein Tatverdächtiger in einem Ermittlungs- oder Strafverfahren zu sein, ist für sich genommen schon eine äußerst unangenehme Sache. Besteht aber auch noch ein öffentliches Interesse an dem Verfahren, sodass die Presse gezielt berichtet, kann diese sogenannte Verdachtsberichterstattung den Tatverdächtigen schwer belasten.
Jedem Betroffenen droht mit der Berichterstattung die gesellschaftliche Vorverurteilung und gravierende Auswirkungen einer möglicherweise unbegründeten Verdächtigung – bestes Beispiel dafür ist der Fall des Fernsehmoderators Andreas Türck, der aufgrund der ausgiebigen medialen Berichterstattung über eine fälschlich vermutete Vergewaltigung beruflich ruiniert wurde. Aus diesen Gründen werden von der Rechtsprechung für eine Verdachtsberichterstattung hohe Anforderungen an die journalistische Sorgfalt gestellt.
Denn obwohl die Berichterstattung ein aus der Pressefreiheit abgeleitetes Privileg der Medien darstellt und eine wichtige Rolle für die Gesellschaft spielt (man denke nur an diverse von der Presse aufgedeckte Steuer- und Spendenaffären), stehen diesem Recht auf Berichterstattung die persönlichen Rechte des Verdächtigen entgegen. Die Tatsache, dass das OLG Hamburg (7 U 59/08) den Anwendungsbereich der Grundsätze der Verdachtsberichterstattung auch auf jedes sonstige Verhalten, das geeignet ist, das Ansehen des von der Berichterstattung Betroffenen in der Öffentlichkeit herabzusetzen, ausgeweitet hat, wird die Bedeutung der Verdachtsberichterstattung auch für gesetzestreue Bürger deutlich.
Berechtigtes öffentliches Interesse
Eine Verdachtsberichterstattung ist nur dann zulässig, wenn ein besonderes öffentliches Interesse an der Information besteht. In der Praxis wird diese Beurteilung sehr großzügig gehandhabt, wobei über Fälle kleinerer und mittlerer Kriminalität ohne Öffentlichkeitsbezug (Beispiel: bekannter Firmenchef lässt seinen Sohn ohne Führerschein fahren) nur ausnahmsweise berichtet werden darf. Gerade bei prominenten Personen muss das Delikt im Zusammenhang mit der Funktion des Betroffenen stehen, rein private Verfehlungen begründen kein berechtigtes öffentliches Interesse für eine Verdachtsberichterstattung.
Stellungnahme des Verdächtigen
Bevor es zu einer öffentlichen Berichterstattung kommt, haben die Medien die Pflicht, eine Stellungnahme des Betroffenen einzuholen. Auf diese Weise können sie sich über seinen Standpunkt informieren und umfassender berichten. Dies ist selbst dann zu tun, wenn der Verdächtige keine weiteren Informationen zu den Geschehen beitragen kann. Eine Kontaktaufnahme zur Anregung einer Stellungnahme muss ernsthaft versucht werden, notfalls auch schriftlich.
Keine Vorverurteilung
Die Berichterstattung darf keinerlei Vorverurteilung des Verdächtigen enthalten, also nicht vermitteln, dass er der ihm vorgeworfenen Handlungen bereits überführt sei. Es muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass es sich lediglich um einen Verdacht handelt und auch die entlastenden Tatsachen und Argumente müssen vorgetragen und dürfen nicht bewusst verschwiegen werden. Dem Leser muss aufgrund der offenen Darstellung der Berichterstattung die Möglichkeit gegeben werden, sich selbst ein Urteil über die Verdachtssituation zu bilden. Darüber hinaus ist ein Bericht zum Schutz des Betroffenen einzelfallabhängig zu anonymisieren.
Verpflichtung zur Eigenrecherche
Die Medien sind grundsätzlich dazu verpflichtet, selbst zu recherchieren. Da brisante Informationen jedoch leider oft aus zweifelhafter Quelle stammen, reicht für eine Berichterstattung das Zusammentragen eines Mindestbestandes an Beweistatsachen aus. So kann auch ein Bericht veröffentlicht werden, bei dem Zweifel an der Zuverlässigkeit des zugrunde liegenden Tatsachenmaterials bestehen- unter Umständen sogar dann, wenn die Zweifel bereits zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bestanden haben. Das bedeutet auch, dass ein Ruf schädigender Beitrag zulässig sein kann, auch wenn er sich im Nachhinein als falsch herausstellt. Eine Besonderheit bei der Eigenrecherche nehmen Informationen sogenannter privilegierter Quellen (anerkannte Nachrichtagenturen, amtliche Auskünfte, Aussagen von Ermittlungsbehörden) ein, die nur kritisch überprüft, aber nicht mehr umfangreich nachgeprüft werden müssen. Überschreiten die privilegierten Quellen allerdings selbst die Grenzen der Verdachtsberichterstattung, z.B. indem sie den Verdächtigen vorverurteilen und gegen die Unschuldsvermutung verstoßen („kriminelle Machenschaften“, „Käuflichkeit des Betriebes“, etc.), verlieren sie ihren privilegierten Status und die Pflicht zur Eigenrecherche tritt wieder voll ein.
Fälschliche Verdächtigung
Entfällt der Verdacht gegen einen Betroffene nachträglich, etwa durch einen Freispruch oder die Einstellung des Verfahrens, wird die vormals rechtmäßige Verdachtsberichterstattung nicht nachträglich rechtswidrig. Wird jedoch weiterhin über ein Strafverfahren berichtet, darf dies nur mit dem Hinweis auf die Einstellung des Verfahrens bzw. den Freispruch erfolgen, da kein vertretbares Interesse mehr am Festhalten des Verdachts besteht. Da die Medien aber auch durch das Verfügbarhalten nicht mehr tagesaktueller Berichte für Interessierte an der demokratischen Willensbildung mitwirken, können Verdachtsberichte unter bestimmten Voraussetzungen auch in (Online-)Archiven bereitgestellt werden.
Verdachtsberichte im Online-Archiv
Das OLG Hamburg (7 U 80/11) hat entschieden, dass derjenige, der in einem Online-Archiv Berichte bereithält, diese entsprechend dem aktuellen Stand berichtigen muss. Das Bereithalten sei eine ständige Verbreitungshandlung und die Rechtmäßigkeit des Beitrags nach den Verhältnissen zum Zeitpunkt des jeweiligen Abrufs zu beurteilen. Andere Oberlandesgerichte hingegen beurteilen die Rechtmäßigkeit eines Beitrags danach, ob der Artikel am Tag seiner Veröffentlichung rechtmäßig war. Eine fortlaufende Überprüfung der Online-Archive auf die Zulässigkeit der Verbreitung der archivierten Artikel nach aktuellen Maßstäben sei der Presse ebenso wie herkömmlichen Archiven nicht zumutbar. Da der Nutzer eines Online-Archivs wisse, dass er sich in einem Archiv befinde und es sich bei dem von ihm abgerufenen Artikel nicht um eine aktuelle Berichterstattung handele, bestehe auch keine Gefahr, dass das Internet zum „ewigen Pranger“ werde. Selbst das Erscheinen der Artikel unter dem aktuellen statt dem ursprünglichen Erscheinungsdatum sei unerheblich.
Da auch der Bundesgerichtshof (VI ZR 4/12) dieser Richtung folgt, ist es also für die Betreiber von Online-Archiven ausreichend, wenn für den Nutzer ohne Zweifel erkennbar ist, dass er sich einen Artikel im Archiv ansieht und es sich bei diesem Artikel um keine aktuelle Berichterstattung handelt und auch der Ausdruck eines Artikels aus einem Online-Archiv diese Eigenschaft deutlich erkennen lässt.
Zusammenfassung
Die Voraussetzungen für eine rechtmäßig Verdachtsberichterstattung sind demnach:
- Es besteht ein Verdacht, also ein Mindestmaß an Beweistatsachen.
- Ein Informationsinteresse der Allgemeinheit liegt vor.
- Die Voraussetzungen des Aktualitätsbezuges ist gegeben.
- Eine erhöhte Sorgfaltspflicht wird erfüllt (Recherchen sowie Stellungnahme des Betroffenen).
- Keine Vorverurteilung und keine einseitige Berichterstattung (auch entlastende Umstände berichten).
„Die Medien sind grundsätzlich dazu verpflichtet, selbst zu recherchieren.“
Es ist bedauerlich, dass der Autor in diesem Kontext nicht auf das in Pressekreisen üblich gewordene Zitieren privilegierter Quellen eingeht – diese dürfen nach h.M. im Rahmen jounalistischer Sorgfalt ohne weitere Recherche genutzt werden.
Die Gefahr (oder auch die Absicht ) der Vorverurteilung besteht immer, da die meisten Leute die Unschuldsvermutung nicht kennen und glauben, was sie im TATORT sehen, sei echt. Dieser Irrtum ist übrigens die Hauptursache für die generalpräventive Wirkung des Strafrechts. Auch wissen die meisten Leute nicht, dass über 90% aller Strafverfahren eingestellt werden und sie kennen die durchaus sehr hohen Dunkelziffern nicht. Die große Mehrheit setzt also Ermittlungen mit dem Urteil gleich!
Man kann also immer hinter der Verdachtsberichterstattung ein manipulatives Interesse vermuten. Personalentscheidungen sollen durchgesetzt werden. Wer trifft die Auswahl, wen trifft es dann ?
Markant etwa das Verfahren gegen „Paolo Pinkel“ welches medial breit getreten wurde und einem gewissen Justizbürokraten die Bezeichnung „durchgeknallt“ einbrachte, was das Bundesverfassungsgericht später abnickte.
Da auch im Grundsatz ein Verfahren den Ruf des Beschuldigten so wenig wie möglich beeinträchtigen darf kann man durchaus argumentieren, dass die Verdachtsberichterstattung restriktiv behandelt werden sollte. Denn: ein großer Informationswert liegt darin sowieso nicht.
@JLloyd Nun, das Zitieren privilegierter Quellen kann man durchaus als ausreichend ansehen. Aber dabei wäre zumindest die Voraussetzung, direkt von der Quelle zu zitieren, bzw. das Zitat zu überprüfen und nicht ungeprüft von Dritten zu übernehmen (Quellenprüfung = Recherche).
„Recherche“ im Beitrag meint ja nicht, dass jeder Journalist den Tatort besichtigen oder die Gerichtsakten einsehen muss…
Streiche „Recherche“, setze „Gegencheck“: Ein wesentliches Problem liegt darin, dass die Staatsanwaltschaft ihre einseitige Sicht der Dinge verlautbaren darf & die Journalisten deren Meinung (von Information will ich in diesem Kontext nicht sprechen) ungeprüft kolportieren darf.
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